Lou Reed: Berlin in Berlin



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Es ist nicht mehr so kalt in Alaska

Lou Reed führt sein Album Berlin in Berlin auf

Man durfte skeptisch sein. Man musste skeptisch sein, als Lou Reed ankündigte, er werde sein Album Berlin nach 34 Jahren mit neuem musikalischem Arrangement wiederaufführen. Jenes Konzeptalbum aus dem Jahr 1973, das von einem Junkie-Pärchen in Berlin handelt, von Gewalt, Prostitution und Selbstmord. Jenes Album, das im Original schon latent überproduziert war; dessen feine Orchestrierung einen beißenden Gegensatz zu den profanen und verzweifelten Geschehnissen aufmachte, von denen die Lyrics handelten.

Und dann auch noch Berlin in Berlin, mit Streichern, Bläsern und einem Mädchenchor. Das roch stark nach Kitsch. Das roch danach, dass Lou Reed, dessen Wille zur Kunst mit ganz großem K sich in den letzten Jahren schon gelegentlich unangenehm bemerkbar gemacht hatte, sich diesmal ganz gräßlich versteigen würde.

Ein sehr gemischtes Publikum hatte sich im Tempodrom eingefunden, das Durchschnittsalter deutlich gehoben. Viele dürften inzwischen genau jene Karrieren als bankers und clerks gemacht haben, über die sich Reed in seinem Song Sweet Jane mokiert hatte, damals, als er noch der brillante Poet des Lasters und der Selbstzerstörung war. Man wird älter, findet seinen Platz, irgendeinen Platz, macht Kompromisse. Everyone who's ever played a part / wouldn't turn around and hate it. Vor dem Konzert werden Bilder rauschender Brandung auf die Leinwand hinter der Bühne projiziert.

Zunächst fällt der Sound auf. Lou Reed hat einmal kokett von sich gesagt, er wolle Rhythmusgitarrist werden. Und er hat einen guten Teil seiner späteren Karriere damit verbracht, an Gitarrensounds zu tüfteln. Hier bringt er sie auf die Bühne, so klar und transparent, wie man sie selten in einem Rockkonzert gehört hat. Er hat eine formidable Band mitgebracht. Über weite Strecken definieren zwei Gitarren, zwei Bässe und ein filigran-brachiales Schlagzeug das Klanggerüst, gelegentlich ergänzt durch Streicher und Blechbläser des London Metropolitan Orchestra und die Backing Vocals des New London Children's Choir.

Nach den ersten, noch verhalten gespielten Songs beginnt die Musik zu swingen, Reed und sein Gitarrist Steve Hunter gehen aufeinander ein, spielen sich die Bälle zu, während in den Filmsequenzen im Hintergrund eine hübsche Blonde sich auf einem Bett räkelt oder auf der Straße auf Freier wartet. Reeds Musik hatte schon immer einen Hang zum Jazzigen, und im Tempodrom entwickelt sich eine feine, komplexe Soundstruktur, die auf dem Original-Album nur zu erahnen war.

Lou Reed ist so entspannt wie man ihn selten gesehen hat. Er phrasiert, akzentuiert seine Lyrics, als hätte er nicht Jahre damit verbracht, sie kalt und emotionslos in Konzertsäle zu dröhnen. Die Kälte Alaskas, die in Caroline Says besungen wird, die Kälte, mit der harte Drogen den User beschützen und bestrafen. Sie klingt in Reeds Darbietung seltsam erwärmt und versöhnt. Doch musikalisch gesehen begeistert Reeds wiedergefundene Stimme, auch wenn sich der Verdacht erhärtet, dass sein Stimmumfang tatsächlich nur mehr eine handvoll Töne umfasst.

Der Chor der zwölf Mädchen in weißen Engelshemdchen wird sparsam eingesetzt. Er darf in The Bed "What a feeling" intonieren, während im Hintergrund zu sehen ist, wie das Blut aus aufgeschnittenen Pulsadern in einen Abfluss rinnt.

Das Erstaunliche ist, dass das über weite Strecken funktioniert. Die Grenze zum Operettenhaften wird erst im letzten Lied des Zyklus touchiert, als das gesamte Orchester forte spielt und minutenlang in einer Iterationsschleife den Schlussrefrain ausdehnt: Sad song, sad song. Das ist nicht mehr Radio Brooklyn, die Stimme der Straße, die da sendet. Aber was ist es, das da geschieht? Ist das die Aufhebung menschlichen Leides durch Wohlklang? Erlösung durch Musik? Oder ist es doch blanker Kitsch? Die Widersprüche, die auch schon dem Album Berlin eingeschrieben sind, nehmen in der Schlusssequenz akustische Gestalt an. Vereinzelte Buhrufe werden schnell übertönt von begeistertem Applaus. Everyone who's ever played a part.

Nachdem Lou Reed ausgiebig das Ensemble vorgestellt hat, endet das Konzert mit drei Zugaben. Sweet Jane als krachender Rocksong, ein adrett souliges Satellite of Love, und schließlich ein Walk on the Wild Side, bei dem der Chor der Engelchen das doo-doo-doo der colored girls geben darf. Was dann zum Ausklang doch fast wieder kinky ist.




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