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Wahrheiten aus Ankh-Morpork

"Die Zwerge können Blei in Gold verwandeln", lautet das Gerücht, das sich durch Ankh-Morpork verbreitet. Dies können die Zwerge, weil sie eine Druckmaschine erfunden haben. Und der Schriftsteller Terry Pratchett stellt in seinem Buch "Die volle Wahrheit" die dramatischen Auswirkungen dar, die diese Erfindung auf das Leben in der Hauptstadt der Scheibenwelt hat. Die Scheibenwelt, das ist ein Fantasy-Universum, das Pratchett nun schon in 25 Romanen beschrieben hat. Diese Welt ist eine Scheibe, die auf dem Rücken von vier großen Elefanten ruht, die wiederum auf dem Rücken einer Riesenschildkröte stehen. Trotz dieses bizarren Grundaufbaus weist Pratchetts Scheibenwelt deutliche Ähnlichkeiten mit unserer westlichen Zivilisation zu Beginn der Neuzeit auf. Sie ist nur etwas lustiger.

Buch-Cover
Pratchett: Die Wahrheit

Leser, die schon andere Folgen aus der Serie kennen, werden mit einigen der Charaktere bereits vertraut sein. In den besseren Scheibenwelt-Romanen hat sich Pratchett immer ein bestimmtes Thema gesetzt, etwa indem er eine Institution wie die "Wache" ins Zentrum gerückt und dargestellt hat, wie sie mit einer charmanten Mischung aus Zynismus und Pragmatismus in der Scheibenwelt für Ruhe und Ordnung sorgt. In "Die volle Wahrheit" geht es nun um die Erfindung der Druckerpresse, und die Turbulenzen, die sich daraus für das soziale Leben in dem noch recht bodenständigen und traditionalistischen Fantasieuniversum ergeben.

Der Held des Romans ist William de Worde, Sohn einer mächtigen Patrizierfamilie, mit der er sich allerdings zerstritten hat. Bisher hat er nur in Einzelfertigung für ausgewählte Abonnenten über Neuigkeiten aus der Stadt berichtet. Er verfolgt die Mission, "die Wahrheit" in die Welt hinauszutragen. In der Erfindung der Presse erkennt er die Chance, eine Zeitung mit größerer Auflage zu machen. De Worde verbündet sich mit dem Erfinder und Zwergen-Entrepreneur "Gutenhügel", und die Ankh-Morpork Times ist geboren. Sie erscheint mit dem treuherzigen Untertitel "Die Wahrheit macht dich frei".

Allerdings lernt de Worde bald, dass der Nachrichtenmarkt seine eigenen Gesetze entwickelt. Zu seinem Entsetzen muss er feststellen, dass die populärsten Meldungen nicht seine sorgfältig recherchierten politischen Artikel sind, sondern eher Berichte über seltsam geformte Gemüse. Außerdem schläft die Konkurrenz nicht: schon bald macht ein Boulevardblatt, das es mit er Wahrheit weniger genau nimmt, der Ankh-Morpork Times die Leser abspenstig. "Eine Lüge kann um die ganze Welt laufen, bevor die Wahrheit ihre Stiefel angezogen hat", lautet einer der Running Gags des Buches. Die Exklusivbilder zu den Stories der Times liefert Otto Chriek, ein abstinenter Vampir, der mit deutschem Akzent spricht. Sein Beruf ist für ihn nicht ohne Risiken, denn sein lichtscheues Nervensystem kollabiert jedes Mal, wenn er für eine Aufnahme blitzen muss.

Dass die Pressefreiheit auch eine politische Dimension hat, erfährt de Worde, als er eine Verschwörung gegen den Herrscher Lord Vetinari aufdecken muss. Die Autoritäten müssen sich erst daran gewöhnen, dass ihnen jemand auf die Finger sieht. "Hör endlich auf, alles aufzuschreiben, was wir sagen", brüllt ihn der Vertreter der Anwaltsgilde an. Und auch Kommandeur Mumm von der Wache ist skeptisch, dass plötzlich jemand viele Fragen stellt. Rumlaufen und Dinge über die Leute aufschreiben, das kann nur zu Problemen führen, weiß er mit dem sicheren Instinkt des Ordnungshüters. Allerdings lernt er schnell die Lektion, dass Information gegen Publicity ein Tausch ist, bei dem ein Cop auch gewinnen kann.

Die Handlung wird aufgelockert durch die Dialoge des Gangsterpaares Tulpe und Nadel, das in deutlicher Anlehnung an den Film Pulp Fiction seine verbrecherischen Tätigkeiten mit populärphilosophischen Betrachtungen garniert. Besonders Tulpe wartet mit profundem kunsthistorischen Wissen auf, was angesichts seines sonst eher brutalen und vulgären Auftretens überrascht.

An diesem Punkt zeigt sich auch wieder, was schon gelegentlich bei Pratchett zu beobachten war: Charakterentwicklung ist nicht unbedingt die Stärke seiner Romane. Seine Bücher sind voller Ideen, die intelligent und witzig umgesetzt werden. Aber seine Figuren sind oft typisiert, es fehlt ihnen ein wenig die Tiefe. Allerdings sind alteuropaeische Charakterstudien auch nicht das, was seine Fans von Pratchett erwarten. Was sie mit "Die volle Wahrheit" bekommen, ist eine solide neue Geschichte, in der die gesellschaftlichen Umbrüche, die sich aus der Erfindung der Druckerpresse ergeben haben, treffsicher und satirisch beschrieben werden.


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