Henry Rollins



Anwesenheit des Abwesenden
Bilderverbot
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real cool recursive humor

Rollins Babylon


/* draft 06/02/02 */

Es muss so Anfang 1989 gewesen sein. Das Haupstadtgesocks war noch nicht zu sich und damit vor allem auch nicht hierher gekommen, und die Leute zogen noch aus den richtigen Gründen nach Berlin. Um der Sperrstunde in Regensburg zu entkommen, oder weil Staat und Kapital bekämpft werden mussten, oder weil D. gerade nach Berlin emigriert war. Im Wedding gab es noch das Sputnik-Kino. Was da nicht lief, wollte man eh nicht unbedingt sehen. Nach der Vorstellung ging es zum Schulterschluss mit dem professionell taxifahrenden Teil des Proletariats ins Taxe-Moon.

Dann kam Rollins, im Doppelpack mit Lydia Lunch, annonciert als nochsoein Performance_und_Lesungs_Act. Rollins war schon seit einiger Zeit auf dem Radar sichtbar gewesen, wenn auch nur als kleiner Punkt. Vielleicht so wie eine japanische Bomberstaffel im Anflug auf Guadalcanal, aber von Russell Island aus betrachtet.

Ich mochte seine Musik nicht. Wenn man in jungen Jahren über längere Zeit dem Einfluss von Artfag-Musik ausgesetzt ist, dann hat man ja zeitlebens seine Schwierigkeiten mit Blut-Schweiss-und-Tränen-Rock. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Viele chicks, und nicht die schlechtesten, stehen ja auf Rollins, und es wäre unklug, ein so bedeutendes Segment des Marktes für den Austausch von Zärtlichkeiten apriori gar nicht in Betracht zu ziehen. Ich hatte mir also noch am Tag der Vorstellung bei WOM Hot Animal Machine besorgt -- Vinyl, versteht sich -- und mir dann auch tapfer eineinhalb Seiten davon angehört, aber es war hoffnungslos. Henry und ich waren musikalisch gesehen nicht füreinander bestimmt, er überschritt da wohl irgendeinen Testosteron-Grenzwert. Aber heute abend würde er ja auch nicht singen.

Ausserdem war da noch straight edge, wenngleich ich nur eine vage Vorstellung davon hatte, was das war, ich hatte die entsprechenden Grundsatzpapiere Professor Diederichsens nur recht flüchtig rezipiert. Aber es hatte wohl irgendwas mit Kontrolle zu tun und damit, hardcore zu sein. Ich dachte, es könnte mir vielleicht mittelfristig mal dabei helfen, meinen Drogenkonsum zu optimieren. Ich muss mich jetzt in diesem Rahmen vielleicht nicht unbedingt auf der hardcore-Skala verorten, aber Artfag-Musik hin oder her, um allein schon gegen die street cred des heutigen Weddinger Postleitzahlbezirks 13359 anzukommen, müssen die Kreuzberger wannabes schon noch härtercore werden. Heute sogar noch mehr als damals. Hat da einer Prenzlauer Berg gesagt? Ihre Mutter...! Ich schweife ab, aber das musste schliesslich auch mal wieder gesagt werden.

Jedenfalls war Rollins hinreichend auf dem Radar präsent, so dass man sich an jenem Abend im Sputnik einfand, die meisten im szeneüblichen Schwarz plus Leder - machen wir uns da nichts vor, der dresscode in Berlin war immer etwas peinlicher als andernorts - ich gehörte wenigstens zu jener Minderheit, die noch mitbekommen hatte, dass klamottenmässig nach London 1976ff irgendwas gründlich schiefgelaufen war, aber ich muss gestehen, dass auch ich damals eher wirre Vorstellungen davon hatte, welche Konsequenzen aus dem Debakel zu ziehen seien. Ich sah also an diesem Abend vermutlich ähnlich verkommen aus wie die meisten anderen, aber vielleicht auf eine geläuterte Art. Auch wenn dieser Eindruck subjektiv ist, möge der Leser bitte dieses Detail im suspension-of-disbelief-Modus zur Kenntnis nehmen, es wird möglicherweise später noch bedeutsam werden.

Lydia Lunch hatte schon eine zeitlang rumgebitcht und -performt, und dies durchaus nicht ohne eine gewisse Anmut. Der Leser kann mir glauben, dass ich an dieser Stelle lieber von einem significant encounter mit Fräulein Lunch berichten würde, aber die hohen ethischen Standards, denen ich mich in meinem Schreiben verpflichtet weiss, lassen nicht zu, dass ich mir diesbezüglich Freiheiten nehme. Fräulein Lunch konnte meinem Charme widerstehen, ja sie hat ihn nicht einmal ausreichend wahrgenommen. Zwar brach es an einer besonders ergreifenden Stelle aus einem jungen Mann in der Reihe vor mir heraus: "We love you, Lydia", und sie blickte daraufhin auch grob in meine Richtung, aber ich würde davor warnen, dies überzuinterpretieren.

Nach Fräulein Lunchs Auftritt war erstmal Pause. Man trank Beck's in der Lobby, checkte entspannt den Markt aus, und rauchte Selbstgedrehte (Drum). Ich kam gerade aus der Toilette, da passierte es. Der Ausgang des Herrenklos im Sputnik führte in die Lobby mit Blick auf die Bar. Ich wischte mir ziemlich street die Hände an der Jeans ab und machte den ersten Schritt in Richtung Bar. Mein linker Fuss war noch drei Zentimeter über ground zero, da wurde ich intrusiver Aktivitäten an einem Inputdevice gewahr. Ich schaute auf und blickte pfeilgrad in ein Paar Augen. Tief in ein Paar Augen.

Wenn es sich um eine Frau gehandelt hätte, dann wäre das wohl schon der Kill gewesen, man wäre später nochmal vorbeigeschlendert und hätte sich pro forma die Telefonnummer abgeholt, aber im Prinzips wär's das gewesen. Nicht so in diesem Fall, hier musste weitergekämpft werden.

Datenpaket auf privileged port xx. INCOMING.
SYN - SYN/ACK - ACK. TCP-Verbindung steht.

Der starrt mich immer noch an, war das schon der nichtdestruktive Gehirnscan, oder würde ich bleibende Schäden davontragen? Ich starre zurück. Irgendwo bellt ein Hund. <- - - -- cleared by Iraqi censor//

Hätte ich damals auch nur irgendwas von Computern verstanden, ich hätte mich vermutlich besorgt gefragt, ob er mir nicht jetzt eine frühe Form von Snow Crash ins RAM knallt, oder ich hätte überlegt, wie ich die Situation ausnützen kann, um an einen memory dump wesentlicher Prozesse in Rollins' Gehirn zu kommen, den man dann Jahre später gewinn- und ehrebringend hätte auf Ebay verkaufen können. Aber nichts da, ich ging ja noch auf Rollins-Lesungen, während mein kleiner Bruder schon auf seinem Commodore herumhackte. Ich tippte ja sogar meine Hausarbeiten noch auf einer Remington, äh ..., Triumph-Adler.

Nein, leider musste ich dieses Problem damals noch auf völlig unzulängliche Weise im Psychologie-Modus bearbeiten. Erst heute kann ich, in einem zweifellos immer noch laienhaften Vokabular, versuchen zu begreifen, was damals geschehen ist.

Rollins sass da auf dem Fussboden, den Rücken an die Bar gelehnt, die Beine angezogen, und glotzte mich an, mich, nicht irgendeine Rockerbraut, und von denen gab's viele. Für Sekunden hatten wir da eine Beziehung, die viel vereinnahmender und anstrengender war als das blöde Spiel, wer als letzter wegschaut (er, weil meine Erziehung zur Höflichkeit unter allen Umständen sich halt doch oft durchsetzt, aber er wusste genau, dass das keine Niederlage meinerseits war, sondern nur ein taktischer Rückzug). Er war wild, aber auch ernsthaft, der Vorgang, den ich nach Studium der Fachliteratur als wechselseitigen Gehirnscan identifiziert habe. Ein Spiel, bei dem es um Macht, um Sex -- jeder Versuch, dies zu verheimlichen, wäre zwecklos --, und um Erkenntnis auf der Assembler-Ebene ging. Seither kenne ich Henry Rollins, und er kennt mich. Ich lernte, neben einigem Unappetitlichen, das ich so genau dann doch nicht hätte wissen wollen, dass einer letztlich ein okayer Kerl sein kann, auch wenn er Testosteron-Musik macht, und er lernte, dass meine Altersweisheit vielleicht doch nicht mit existentieller Mellowness zu verwechseln war. Das ist das Schöne, wenn man mit 19 so ziemlich alle Drogen und Perversionen durch hat und noch halbwegs beinander ist, wenn man dann nichts mehr beweisen muss und sich unaufgeregt dem guten Leben widmen kann, weil, man vergisst ja nix, soviel Hegel muss trotz allem sein dürfen. Natürlich muss einer hardcore sein, um hardcore zu erkennen. Aber Rollins war es, ich war es, sonst war an diesem Abend niemand interessant. (Sorry, Lydia).

Ich nickte ihm so understated wie möglich zu und verzog mich in eine Ecke, um meine akute Testosteron-Vergiftung in aller Stille mit einer Zigarette danach zu behandeln. Ich empfing noch ein obskures Signal, das ich als "War's für Dich auch schön, dude?" dekodierte, aber ich war dann doch zu geschwächt, um darauf noch zu antworten. Ich fühlte mich penetriert und geschändet, natürlich auch ein wenig geschmeichelt und in meiner hardcoreness anerkannt. Aber zuviel war zuviel, vor allem zuviel Testosteron. Diese Entscheidung, Rollins' reinkommende Pakete fürderhin in die DENY-chain zu routen, war möglicherweise einer der grössten Fehler in meinem damals noch jungen Leben.

Henrys Performance war danach auch irgendwie postkoital, die Art, wie er darüber philosophierte, ob "That's Rock'n'Roll, baby, eh?" die adäquate Begrüssungsformel für die Frau sei, die im Jahr zuvor in Rollins' Show ein Auge verloren hatte, die ganze Szene hatte etwas Entrückt-Redundantes an sich. Ich kaufte danach am Bücherstand noch ein Werk mit dem schönen Titel "Art to Choke Hearts", mehr so zur Verifikation, aber ich kannte eigentlich eh schon alles, was da drin stand, so gründlich war der wechselseitige Scanvorgang gewesen.

Soweit der first hand account meiner kurzen, aber verhängnisvollen Beziehung zu Rollins, aber die Sache hatte noch ein Nachspiel, dessen Tragweite ich, so muss ich befürchten, immer noch nicht vollständig überblicke.

Viele Jahre später erzählte mir meine damalige Freundin, ihr Name möge ungenannt bleiben, weil ich das treulose Biest eigentlich vergessen will, dass ihr bei einem Rollins-Konzert, ich glaube sogar im CBGB's, dasselbe widerfahren sei. Das muss man sich vorstellen. Ich meine, der Fussboden im Sputnik war vielleicht nicht sauber, aber er war jedenfalls auch nicht versifft. Aber der Gang vor den Toiletten im CBGB's? Wo sogar die Spermaspuren von Iggy Pop von anno dazumal noch unter all den undefinierbaren Schichten von Ablagerungen zu bewundern sein müssen? Dort auf dem Boden zu sitzen, das ist nicht mehr nur hardcore, das ist schon ungepflegt.

Abgesehen davon möchte ich gerne glauben, dass meine Ex sich da was eingebildet hat. Bei allem was sie ist (treulos, etc.), die ist auf jeden Fall nicht hardcore. Pu-lease. Die musste ja schon husten, wenn sie an irgendeinem Joint nuckelte. Wie intensiv könnte Henry die schon gescannt haben?

Es zerfrisst aber meine Magenwände, dass da immer noch eine Frage unbeantwortet bleibt, die Frage nämlich, ob es da nicht doch einen Zusammenhang gibt. Das ist natürlich völlig abwegig. Aber wenn man mal angefangen hat, im Modus der paranoiden Interpretation zu operieren, dann ist es schwer, den Vorgang wieder unter Kontrolle zu bekommen. Urteilen Sie selbst, lieber Leser. Hier nochmal die Fakten:

(1) Rollins und ich scannen uns wechselseitig und sind für immer verändert.
(2) Zweifellos will Rollins mehr von mir, etwa wilden, animalischen Sex in der Toilette in irgendeinem Punkrock-Schuppen. Ich lasse ihn abblitzen.
(3) Rollins versucht, meine Freundin zu scannen, die damals noch nicht meine Ex war, aber möglicherweise auch schon treulos.
(4) Meine Freundin, das treulose Biest, realisiert ihre Natur als ebensolches und wird zu meiner Ex-Freundin.

War es also ein perfider Racheakt Rollins', der mich durch Scannen meiner Freundin dafür bestrafen wollte, dass ich ihm weitergehende sexuelle Gratifikationen verweigert hatte? Und muss ich ihn weiterhin fürchten? Ist er wie ein eifersüchtiger Gott darauf aus, alle meine künftigen Beziehungen zu zerstören? Das würde einige merkwürdigen Beziehungsunfälle in der Folgezeit erklären, auch wenn ich darauf hier nicht näher eingehen kann.

Oder ist Rollins einfach nur einer, der notorisch auf Fussböden vor Toiletten sitzt und fremde Leute, ganz egal ob Männer oder Frauen, scannt? Dann müsste es eigentlich noch weitere Opfer geben. Vielleicht reicht es ja für eine Selbsthilfegruppe oder eine Sammelklage.




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